Vernichtendes Pisa-Resultat für Schweden

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HeikeBlekinge
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Re: Vernichtendes Pisa-Resultat für Schweden

Beitrag von HeikeBlekinge »

vibackup hat geschrieben: ...und wenn ich deinen letzten Beitrag lese, nehme ich an, du zielst auf meinen letzten Satz, oder?
8)

//M

aber immer
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Re: Vernichtendes Pisa-Resultat für Schweden

Beitrag von HeikeBlekinge »

meckpommbi hat geschrieben:ich hab das schon verstanden das die privaten hier nix extra kosten ;)
und trotzdem finde ich den weg nich richtig
fuer mich ist das eine zentrale staatliche aufgabe fuer vernuenftige bildung zu sorgen
schafft er dies nicht ist es schlicht versagen dann sollten sie ihren hut nemen und zur hoelle fahren und nicht ihr heil in privatisierungen suchen
und so etwas wie havard und co brauchts nicht unbedingt oder meinst du bei den russen giebts keine klugen koeppe
ne ich versteh das alles wer grad kinder in dem alter hat muss zusehen wie er klar kommt - mir gehts hier aber mehr ums prinzip in dieser diskussion

ich habe den foerderalismus im schulsystem genossen nach der wende ich fand es zum :vom: meine kinder wechselten aus meckpomm nach bawue das sind welten
gruss birgit

Tut mir leid, aber wenn ich so etwas lese, dann empfehle ich dem Schreiberling ;-) sich in die Politik zu begeben um es den anderen politischen Versagern vormachen zu können wie man es besser machen kann! Wer Kinder im schulpflichtigen Alter hat muss zusehen wie er klarkommt? Was sprichst du an?

Nee, bei den Russen gibt es fuer mich - um es mal ganz banal zu sagen - kaum noch kluge Köppe, aber der Vergleich hinkt halt nicht nur hier, sondern auch gerade aktuell gesellschaftspolitisch zu deinen Ungunsten etwas, liebe meck!
Um es einmal gesellschaftspolitisch weiterzutreiben:
Hätte es seit Jahrhunderten nicht private oder privatgetriebene Lehranstalten/Möglichkeiten/Einrichtungen gegeben, wäre der moderne (westeuropäische) Mensch heutzutage nicht das was er ist!
Denn nur der, der die Staatsgewalt hinterfragt und evtl kritisiert, handelt zukunftsorientiert! Und nur der Staat, der es dem Buerger zugesteht so frei zu denken und zu lehren ist ein freier Staat.


Und nochmal:
Du machst anscheinend das schlechte Pisa-Ergebnis daran fest, das es seit einigen Jahren private/freie Schulen in Schweden gibt. Das ist falsch!

lg
Heike


nebenbei....
"oder meinst du bei den Russen gibts keine "Eliteschulen" ......?"
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Re: Vernichtendes Pisa-Resultat für Schweden

Beitrag von meckpommbi »

ich meine damit das jemand der zur zeit schulpflichtige kinder hat natuerlich das beste fuer seine kinder suchen muss und wenn dies die staatlichen schulen zur zeit nicht leisten koennen dann sucht er sich alternativen

und nein ich mache das momentane pisa ergebnis nicht nur an den privaten schulen fest

ich bin aber der meinung das genau dies aufgabe eines staates ist : fuer die bestmoegliche bildung aller kinder zu sorgen und zu frei denkenden menschen zu erziehen

es ist warscheinlich utopisch aber so stelle ich mir das nun mal vor

klar giebts jetzt auch eliteschulen in russland aber jahrzente gabs die nicht und sie haben trotzdem leistung produziert

ich kann nicht in die politik gehen ich bin zu ehrlich

gutes nächtle meck

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HeikeBlekinge
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Re: Vernichtendes Pisa-Resultat für Schweden

Beitrag von HeikeBlekinge »

Gut.

Somit kann kein Staat das nicht zu 100% garantieren.
Muss er auch nicht. Nichts ist perfekt.
ich kann nicht in die politik gehen ich bin zu ehrlich
Ich auch nicht. Mich wuerden sie wahrscheinlich erschiessen.
Sollten wir es nicht genau deshalb tun?
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unbekannt

Re: Vernichtendes Pisa-Resultat für Schweden

Beitrag von unbekannt »

Der Wunsch nach Verstaatlichung ist verständlich. Allerdings trifft dies nicht den Kern des Problems. Das derzeitige schwedische Schulsystem mit dem Wettbewerb zwischen privaten und staatlichen Schulen wurde am Anfang der 90er Jahre eingeführt. Am Anfang war es erfolgreich. Die Grundidee ist, dass jede Schule - ganz gleich ob in privater oder staatlicher Hand - die gleiche Summe je Schüler aus dem Steuertopf bekommt. Es ist also kein Privileg eine schwedische Privatschule zu besuchen. Dies können nach dem Grundgedanken die Schüler oder Eltern frei entscheiden und es kostet auch kein Schulgeld. Der freie Wettbewerb sollte dafür sorgen, dass sich die besten Schulformen durchsetzen.

Die erste Pisa-Studie wurde 2000 durchgeführt. Das schlechte Abschneiden Deutschlands war damals ein Schock. Schweden und Finnland schnitten damals wesentlich besser ab. Alles schaute nach Skandinavien. Schwedische Schüler waren besser, hatten viel Spaß in der Schule, hatten kaum Stress mit den Schulnoten, weil es die erst in den höheren Klassen gibt und Sitzenbleiben können die Schüler in Schweden auch nicht. Der Ruf nach Ganztagsschulen wurde in Deutschland immer lauter. Das dreigliedrige deutsche Schulsystem wurde zurecht stark kritisiert. Es wurde auch kritisiert, dass es im deutschen Schulsystem ohne teuren Nachhilfeunterricht oft nicht geht. Schwedische Eltern hatten wesentlich weniger Stress mit der Schule.

Dies alles hat eine intensiven Reformdruck in Deutschland ausgelöst. Viele schwedische Ideen wurden in Deutschland allmählich eingeführt. In den deutschen Grundschulen wurden Schulnoten wenigstens halbherzig durch mildere Formen ersetzt. Das Sitzenbleiben ist in Deutschland immer mehr die Ausnahme geworden, denn es ist im Prinzip grausam und stigmatisierend als demütigende Maßnahme Kinder aus ihrer Gruppe herauszureißen. Abgesehen davon kostet es dem Steuerzahler Geld. Immer mehr deutsche Schulen haben auch nachmittags Unterrichtsangebote oder Hausaufgabenbetreuungen anbieten können.

Nicht zuletzt haben Autoren wie Manfred Spitzer dazu beigetragen die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse der Hirnforschung und Lernpsychologie einer breiten Öffentlichkeit verständlich darzustellen. Die Schulpädagogik fängt an sich von ihrer geisteswissenschaftlichen Haltung, die aus dem hohlen Bauch heraus viele unsinnige Entscheidungen getroffen hat, zu verabschieden. Nun fängt man endlich an auf der Ebene der Hirnzellen zu verstehen, wie Lernen funktioniert und welche Hirnareale dabei eine Rolle spielen. Die wichtigste Erkenntnis dabei ist, das Glücksgefühle von der Evolution anscheinend nur deshalb erfunden wurden, um das Lernen im weitesten Sinne zu belohnen. Leider kann das Glückszentrum im Gehirn nicht unterscheiden, ob es durch das Ansetzen der Heroinspritze oder durch das erfolgreiche Bestehen einer Klausur die Glücksbotenstoffe aussschüttet. Deshalb ist es mit dem Glück im Leben oft nicht so einfach, um es mal nicht ganz ernst gemeint auszudrücken. Auf jeden Fall muss Schule überwiegend Freude bereiten und durch Leistung oder Leistungsbereitschaft erbrachte Erfolgserlebnisse vermitteln.

Inzwischen haben sich die Verhältnisse umgedreht. Deutsche Schüler sind besser als schwedische. Mehr und mehr Schweden interessieren sich dafür, warum zum Beispiel die deutschen Schulen aufgeholt haben. Mit wenigen Sätzen kann man das nicht erklären. Die verbesserten Unterrichtsmethoden spielen dabei auf jeden Fall eine erhebliche Rolle. Aber auch die Einstellung zum Lernen innerhalb einer Gesellschaft spielte ein große Rolle.

Was ist nun in Schweden in den letzten 10 Jahren schief gelaufen? Die Frage stellte ich in gemütlicher Runde ein paar Schweden, die selbst Lehrer sind oder waren, als wir über das schwedische Schuldesaster diskutierten. Alle waren sich einig, dass es so nicht weitergehen kann. Über dieses Thema können sich selbst Schweden aufregen. Aber warum es zu diesem Desaster gekommen ist, wusste keiner so richtig:

Einerseits gibt man den Kommunen die Schuld, welche die Verantwortung einfach an die Privatschulen abgeschoben haben und sich dann um das Thema Schule nicht gekümmert haben. Dann haben zum Beispiel private Gymnasien auf unseriöse Art mit vielen bunten Werbebroschüren um die Gunst der potenziellen Schüler geworben. Ihnen wurden viele attraktive "Hobby-Kurse" versprochen und den Führerschein könnte man auch an der Schule machen. Nebenbei sei noch Zeit fürs das Jobben, wurde versprochen. Dann kommt noch die Sorglosigkeit mancher Eltern hinzu, die kritiklos die Erziehung der Kinder dem Staat oder ihren Ersatzinstitutionen überließen. Das Ergebnis sind dann solche Merkwürdigkeiten wie Gymnasien mit einer gleichzeitigen Ausbildung zum Pferdepfleger. Viele Mädchen sind nun mal begeisterte Pferdeliebhaber. Die Zulassung für diese Schule gab es, weil der Reitsport in Schweden immer beliebter wird. Allerdings ist der Beruf des Pferdepflegers vielen dann zu anstrengend gewesen und sie haben versucht andere Jobs zu finden, was dann aber nicht so leicht war. An schwedischen Gymnasien ist es üblich auch noch einen Berufsabschluss zu erlangen, der zum Beispiel im handwerklichen Bereich sein kann. Diese Ausbildung ist aber nicht mit der Gründlichkeit einer deutschen Ausbildung nach dem dualen System vergleichbar. Dies ist ein Grund für die hohe Arbeitslosigkeit der jungen Menschen.

Es kommt noch hinzu, dass es schwer ist eine Privatschule in Wohngegenden mit vielen sozial benachbeteiligten Schülern zu gründen. Diese würden mehr Geld für die Betreuung benötigen. Aber mehr Geld gibt es nicht. Also gründet man Schulen in den "besseren Wohngegenden". Dort sind die hochmotivierten Kinder, die leicht zu unterrichten sind. Dort können die Schulen also mehr Gewinn erzielen. Gute Lehrer wollen auch an guten Schulen brave Schüler unterrichten. Lehrer in Schulen der problematischen Wohnviertel benötigen mehr Kompetenz und müssten mehr Geld verdienen. Das ist aber nicht der Fall. An Eliteschulen unterrichten ist relativ stressfrei und einen hohen Status erhält man auch noch dazu. Ungeeignete Lehrer unterrichten dann vermehrt an Problemschulen. Ein Teufelskreis.

Die meisten Schweden glauben, nur große Konzerne können am Markt bestehen und seien alleine auf Grund ihrer Größe kompetent. Eine umfassende mittelständische Struktur fehlt in Schweden in der Form, wie sie das Rückgrat der deutschen Volkswirtschaft bildet. Es ist zum Beispiel schwer in Schweden einen mittelständischen Betrieb mit 20 Angestellten aufzubauen, weil in Schweden die Strukturen und Vorschriften anders sind. Auch fehlt die Einstellung dazu. Die meisten Selbständigen sind Einzelkämpfer oder haben ein paar wenige Angestellte. Dabei ist die beliebteste Rechtsform auch für "Einzelkämpfer" die Aktiengesellschaft (AB).

Dies gepaart mit Schlamperei und naiver Sorglosigkeit führte dazu, dass sich Schulbehörden nichts dabei gedacht hatten, als ausländische Risikokapitalgesellschaften die Privatschulen aufkauften. Selbst den Politikern war die Entwicklung überhaupt nicht aufgefallen (ich kann mich da an ein 5 oder 6 Jahre altes Interview mit einer sozialdemokratischen Spitzenpolitikern noch gut erinnern. Ihre Antwort auf die Frage nach ihrem Wissen über die Eigentumsverhältnisse der Privatschulen war wenigstens ehrlich, knapp und auf den Punkt gebracht: "Ingenting" (Nichts)).

Wie denken die Vorstände solcher Risikokapitalgesellschaften, die über diese Schulkonzerne entscheiden? Sie können Bilanzen lesen und interessieren sich nur dafür, wie man die Rendite steigern kann. Die Rendite muss über einige Jahre stetig steigen, um einerseits mehr Kapital am Markt zu bekommen und andererseits dann den Schulkonzern mit erheblichen Gewinn weiterverkaufen zu können. Der Trend verspricht ja auch für die Zukunft noch mehr Rendite und dies treibt den Kaufpreis in die Höhe. Und wie steigert man kurzfristig die Rendite und den Gewinn einer Schule, wenn man keine Ahnung von Schulwesen hat? Ganz einfach. Diese Manager haben große Ahnung vom internationalen Steuerrecht und von Kostenrechnung. Der Firmensitz wird in eine Steueroase verlegt. Das macht aber nur Sinn, wenn die Schule Gewinn macht, den man eigentlich versteuern müsste. Investoren, also Kapitalgeber, sind in der Regel auf möglichst schnellen Gewinn aus. Ohne Ahnung von Schule zu haben, ließt man sich wieder die Bilanzen durch und dann spart man an den Kosten angefangen bei der Toilettenreinigung oder stellt unqualifizierte und somit billige Aushilfslehrer an. Irgendwann geht diese Inkompetenz dann schief und das letzte Mittel sind dann Bilanzfälschungen und Konkursverschleppung, wie dies beim JB-Konzern vermutet wird. Ok, da fangen einige an mit sozialistischen Gedanken zu liebäugeln.

Das Übel sind nicht die privaten Schulen an sich, sondern die Gewinnorientierung, die fehlende Schulaufsicht und die Naivität von vielen Eltern und Schülern. In Deutschland gibt es Privatschulen, die meistens gut sind. Die kosten den Eltern Geld und die Eltern überlegen sich deshalb meistens genau, ob sich diese zusätzliche Investition auch für die Ausbildung lohnt. Diese Privatschulen sind oft auch gemeinnützige Stiftungen. Dahinter steckt auch eine Menge Idealismus und eine pädagogische Idee.

Das schwedische System mit den Privatschulen würde meiner Meinung nach funktionieren, wenn für diese Privatschulen eine spezielle Rechtsform ohne Gewinnabsicht geschaffen werden würde. Diese Privatschulen dürfen zudem eine bestimmte Größe nicht überschreiten und besitzen ähnlich einer Stiftung gewählte Aufsichtsgremien aus Eltern und kommunalen Vertretern. Schüler sollten mindestens ein Anhörungsrecht haben. Über die Einzelheiten kann man sich gerne noch streiten. Aber so wie bis jetzt geht es nicht weiter. Darüber ist sich eine große Mehrheit der Schweden einig.

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Re: Vernichtendes Pisa-Resultat für Schweden

Beitrag von HeikeBlekinge »

Danke Volker!

Ich glaube ein wichtiger Aspekt ist auch der, das immer mehr Schulen in ländlichen Bereichen geschlossen werden. Das fing 2005 herum an - um eine Zeit also, als noch alles in Ordnung war mit Pisa & Co. Es wurde einzig und allein mit Sparzwängen begruendet!
Jetzt haben immer mehr und immer juengere Schueler teils sehr, sehr weite Wege zur Schule zurueckzulegen. Das macht schlapp, lustlos und kostet viel Zeit sowie Lebensqualität!

Und an den Schliessungen sind eindeutig Politiker schuld die keinerlei Ahnung vom Schulwesen haben!


lg
Heike
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Re: Vernichtendes Pisa-Resultat für Schweden

Beitrag von meckpommbi »

Volker hat geschrieben: da fangen einige an mit sozialistischen Gedanken zu liebäugeln.
da ist es wieder - das kollektive schreckgespenst
sozialistische gedanken perse sind nicht verkehrt
nur viele verwechseln das sozialistische gedankengut mit dem was sich real existierender sozialismus ala udssr,ddr usw nannte
nur weil diese mehr oder minder diktaturen sich so nannten war es noch kein sozialismus
gruss birgit

EuraGerhard
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Re: Vernichtendes Pisa-Resultat für Schweden

Beitrag von EuraGerhard »

Hallo!
Ich habe die Diskussion hier bisher mehr am Rande mitverfolgt, da ich nicht direkt betroffen bin. Meine Tochter ist bereits aus der Schule raus und überdies nicht in Schweden zur Schule gegangen, und meine Enkelin ist erst 3 Monate alt.

Aber vielen Dank, Volker, für Deine ausführliche Stellungnahme. Da möchte ich gerne an einigen Punkten einhaken.
Volker hat geschrieben:Der freie Wettbewerb sollte dafür sorgen, dass sich die besten Schulformen durchsetzen.
Genau da bleibt mir ehrlich gesagt die Luft weg. Wenn ich mir ein Paar Schuhe kaufe und feststelle, dass die nichts taugen, dann schmeiße ich sie weg und kaufe mir neue von einem anderen Hersteller. Und wenn der Hersteller des ersten Paares nur solchen Schund produziert, dann wird er über kurz oder lang Bankrott gehen. Und das ist gut so, da ist freier Wettbewerb gut und richtig.

Wenn ich aber nach Abschluss der Schulzeit feststelle, dass ich mein Kind auf eine schlechte Schule geschickt und ihm damit die Zukunftschancen verbaut habe, dann kann ich mein Kind eben nicht wegschmeißen und mir ein Neues kaufen! Dann habe ich auch nichts davon, wenn die Schule irgendwann Bankrott geht. Da ist freier Wettbewerb nicht nur unnütz, sondern sogar schädlich.

Im Schulsystem erwarte ich statt dessen, dass der Staat - als weltanschaulich neutrale Instanz - für die Durchsetzung qualitativer Mindeststandards überall und in allen Schulen sorgt, mithin gerade den "freien Wettbewerb" zwischen den Schulen außer Kraft setzt. Ob diese Schulen in staatlicher, kommunaler oder auch privater Trägerschaft liegen, ist für mich dabei zunächst mal zweitrangig, solange eben die qualitativen Mindeststandards gewährleistet sind. Gewinnorientiert wirtschaftende Privatunternehmen sind in so einem System allerdings fehl am Platz.

Hinzu kommt noch, dass gerade im ländlichen Raum die Schülerzahlen oft viel zu klein sind, um einen echten Wettbewerb zwischen verschiedenen Schulen überhaupt möglich zu machen. Das ist dann keine Marktwirtschaft mehr, sondern Marktwurschtelei auf dem Rücken der Kinder.

Deshalb halte ich alleine schon die Idee, im allgemeinen Bildungswesen auf freien Wettbewerb zu setzen, für ausgesprochen zynisch! Wer diesen Unfug ausgeheckt hat, gehört bestraft.
Volker hat geschrieben:Die erste Pisa-Studie wurde 2000 durchgeführt. Das schlechte Abschneiden Deutschlands war damals ein Schock. Schweden und Finnland schnitten damals wesentlich besser ab.
Natürlich war - und ist noch - in Deutschland auch vieles im Argen. Allerdings sind die Ursachen in Westdeutschland anders (Zur ehemaligen DDR kann ich mangels Erfahrung nichts sagen.): Dort war es mehr die föderalistische Kleinstaaterei, gepaart mit parteipolitisch-ideologischen Grabenkämpfen, welches das Bildungssystem ruiniert hat und insbesonderen den Kindern von Eltern, die auf dem Arbeitsmarkt flexibel waren und es gewagt haben, auch mal über Bundesländer-Grenzen hinweg umzuziehen, das Leben schwer gemacht hat.
Volker hat geschrieben:Das Übel sind nicht die privaten Schulen an sich, sondern die Gewinnorientierung, die fehlende Schulaufsicht und die Naivität von vielen Eltern und Schülern. In Deutschland gibt es Privatschulen, die meistens gut sind. Die kosten den Eltern Geld und die Eltern überlegen sich deshalb meistens genau, ob sich diese zusätzliche Investition auch für die Ausbildung lohnt. Diese Privatschulen sind oft auch gemeinnützige Stiftungen. Dahinter steckt auch eine Menge Idealismus und eine pädagogische Idee.
In Deutschland benötigen diese Privatschulen allerdings eine staatliche Zulassung. Und um diese zu erhalten, müssen sie nach den gleichen Lehrplänen unterrichten wie die staatlichen Schulen, müssen über eine Mindestausstattung an Lehrmaterial und über eine Mindestanzahl ausreichend qualifizierter Lehrkräfte verfügen.

Und einen Nachteil haben die deutschen Privatschulen gegenüber den schwedischen aber immer noch: Weil sie eben Geld kosten, können es sich viele Eltern nicht leisten, ihre Kinder dorthin zu schicken.

MfG
Gerhard

unbekannt

Re: Vernichtendes Pisa-Resultat für Schweden

Beitrag von unbekannt »

Ok, die freie Marktwirschaft im Schulwesen geht natürlich schief, aber deshalb sind staatliche oder sozialistische Lösungen nicht automatisch gut. Unter Sozialismus versteht fast jeder inzwischen etwas anderes.

Eine Marktwirtschaft befindet sich immer irgendwo im Ungleichgewicht, weshalb es zu Unter- oder Überversorgungen oder Wettbewerbsverzerrungen kommt. Die Regelungseffekte sind immer zeitverzögert.

Entweder regelt die Ungleichgewichte in vertretbarerer Zeit der Markt selbst weg oder es sind staatliche Eingriffe notwendig. Die Verführung ist groß zu schnell nach Verstaatlichung zu rufen, wenn eine Marktwirtschaft im Ungleichgewicht ist. Wenn dann zu viel verstaatlicht und damit verkrustet worden ist, kommen die Neoliberalen auf den Plan und preisen die Privatisierung als Allheilmittel, was natürlich auch nicht stimmt.

Im Schulwesen sind die marktregulativen Zeitverzögerungen mit mehreren Jahrzehnten besonders lang, weshalb man hier den Kräften der freien Marktwirtschaft nicht vertrauen darf. Wenn eine Schule schlecht ist, dann wirkt sich das ja erst nach vielen Jahren oder Jahrzehnten auf die weitere Berufsausbildung, auf den Beruf und sogar auf die Rente aus. Auf Deutsch: Der Markt funktioniert im Schulwesen nicht so wie beim Kauf von Brötchen oder Schuhen.

Für komplizierte Fragen gibt es aber leider keine einfachen Antworten und Patentlösungen, und das gilt gerade im Schulwesen. Ein staatliches Schulwesen kann nämlich auch katastrophal sein, muss es aber nicht. Zum Beispiel ist das Schulwesen in Griechenland staatlich und extrem schlecht. Für mich sind die wahren Schreckgespenster Pauschalisierungen. Ob man Schulen verstaatlichen oder privatisieren soll, ist für mich eine unbefriedigende Frage. Eine handlungsfähige Aufsichtsbehörde ist in jedem Fall notwendig. Ich frage mich auch, wie denn die privaten Schulen juristisch gesehen verstaatlicht werden sollen.

knut245
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Re: Vernichtendes Pisa-Resultat für Schweden

Beitrag von knut245 »

Privatunternehmen haben immer zum Ziel, Gewinn zu erwirtschaften. Privatschulen zu fordern, die nicht in erster Linie Gewinn erzielen wollen, ist widersinnig. Wer sich den Pelz wäscht, wird dabei nass.

Stiftungen sind eine kleine Ausnahme, aber die entstehen entweder, wenn ein größeres Unternehmen etwas für sein Renommee tun will und das Stiftungskapital stellt oder vermögende Privatpersonen ihr Geld sinnvoll vererben möchten. Beides Einzelfälle, die allenfalls ergänzen, aber nicht flächendeckend "eingeplant" werden können.

Wenn wir schon soweit sein sollten, dass staatliche Schulen als Sozialismus bezeichnet werden, dann gute Nacht. Da kann man gut erkennen, wie sehr sich drei Jahrzehnte neoliberaler Gehirnwäsche auswirken. Bildung fällt doch wohl als erstes unter das, was gemeinhin mit dem etwas sperrigen Übergriff der "staatlichen Daseinsfürsorge" zusammengefasst wird. Soll heißen: die Grundbedürfnisse einer Gesellschaft werden durch sie selbst organisiert und nicht dem Gewinnstreben Einzelner unterworfen. Ich kann nichts schlechtes daran erkennen, wenn das gut gemacht wird.

Wie in Deutschland: das PISA-Ergebnis hat sich hier deutlich verbessert. Und das, obwohl Privatschulen hier kaum eine Rolle spielen. Es bleibt also dabei: gute Bildung ist nicht nur durch Privatschulen möglich - eher im Gegenteil. Denn was diese als Gewinn abführen müssen, können die staatlichen in die Kinder investieren.
Hier könnte auch etwas sinnvolles stehen, zum Beispiel ein Bier.

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